«Haben wir dich auch schon zum Mann gemacht?»
Über das Volk der Männer
Ümit Gürkan Buyurucu
«Ein echter Mann hat einen Sohn»
Ich plauderte mit einem Freund über einige Kommentare, die er kurz vor seinem Vaterwerden aus seinem Umfeld bekam. Es gab eine Bemerkung, die ihn sehr rührte, die er aber nicht wirklich deuten konnte. Ein Mann fragte nach dem Geschlecht des erwarteten Kindes. Als er die Antwort bekam – dass es ein Mädchen sein werde –, war er enttäuscht und tröstete: «Ist doch egal», gemeint hat er «Irgendwie sind das ja auch Menschen.»
Ich musste sofort an die Konkubinen im Harem denken, die die Chance verloren, Sultanin zu werden, weil sie ein Mädchen auf die Welt brachten. Auch an die anatolischen Bräute, die am Pflug ackern mussten, weil sie dem Gatten keinen Sohn «schenken» konnten.
Heute trifft man solche Beispiele nicht mehr oft an, aber alleine an jene Zeiten zu denken, macht mir Angst.
Ob es auf den instinkthafte Fortsetzungstrieb des Geschlechts oder auf das bedingungslose Beibehalten der Herrschaft zurückgeht, kann ich nicht genau sagen, aber dass das erwartete Baby ein Junge wird, hat immer noch einen höheren Stellenwert. Wenn von einer patriarchalen Gesellschaft spricht, dürfen solche Zustände einen nicht besonders verwundern – wenn auch in vielen Volkssagen betont wird, dass die anatolischen Jünglinge sich ihren Müttern bedingungslos unterwerfen…
In einer solchen Gesellschaft bedeutet der Mann die Zukunft der Gesellschaft; mit seiner Rolle, Bestimmung und Durchsetzungsfähigkeit in der Gesellschaftsordnung bedeutet er das Fortbestehen des Systems; mit seinen Privilegien ist er Herr des Systems, mit seiner Kühnheit und Tapferkeit gar die Ehre der Familie.
Der Ehrbegriff des Vaters setzt wohl am Mutterleib an. Ich meine damit das, was auf das ungeborene Kind projiziert wird, bzw. die Vorstellung, die in dem Sprichwort zum Ausdruck kommt «Ein echter Mann bekommt einen Sohn». Dass das erwartete Kind ein Junge wird, rettet ja gewissermaßen auch die Ehre des Vaters. Hat dies damit zu tun, dass der Junge für den Fortbestand des Geschlechts sorgen kann? Ist Geschlechts- und Stammesbestandssicherung etwa ein primitiver Brauch des Clanlebens, der bis zum heutigen Tag überdauert hat? Oder ist das eher eine Tradition der osmanischen Dynastie, die uns in Fleisch und Blut übergangen ist?
Sagen wir, wir bekommen diesen Jungen, der den Bestand des Geschlechts garantiert; man verkündet die frohe Nachricht vom «Prachtburschen» dem Freundeskreis und guten Bekannten an… (Dabei wird eventuell auch die Liebe der Ehepartner aufgefrischt, die Beziehung erneuert.)
«Es ist vollbracht, toi, toi, toi!» (Sprichwort zur Beschneidung)
In der türkischen Gesellschaft ein Junge zu sein, ist trotz des ganzen positiven Images eigentlich keine leichte Sache. Außer dass man wie die Paschas vergöttert und mit diversen Privilegien beschert wird, stehen einem auch einige gesellschaftliche Aufgaben und Prüfungen an.
Die Beschneidung der Vorhaut seines Pullermanns tapfer über sich ergehen zu lassen, gehört beispielsweise auch dazu. Mich beschäftigt noch immer, wie ich mit meinem Kinderverstand zu begreifen vermochte, wieso ich durch das Abtrennen eines Stücks von meinem Pullermann männlicher wurde. Daran wurde die Männlichkeit gemessen.
Die Beschneidung der Jünglinge geschieht wie folgt:
Die Kinder, die von der Krone bis zum Marschallstab, vom Umhang bis zum Gürtel wie ein Prinz verkleidet worden sind, werden den ganzen Tag amüsiert, ohne das geringste von der Katastrophe zu ahnen, die ihnen in späteren Stunden widerfahren wird. Sie werden mit Geschenken überhäuft und dürfen alles essen. Traditionellerweise auf einem Pferd, aber wenn dieses fehlt, in einem offenen Sportwagen wird das attraktive «Beschneidungskind» mit einer Stadtrunde den Nachbarn und Bekannten zur Schau gestellt. So wird auch die Anwesenheit des neuen Mannes im Haus offiziell angekündigt.
In der heutigen Zeremonieform geht die Beschneidung in der Geschichte auf semitische Wurzeln und die Sumerer zurück. Sie ist eine Tradition, die sich im Laufe der Entwicklung des Patriarchats in Anatolien fest etabliert hat. So wie die Schlange sich mit der Häutung erneuert, symbolisiert auch in den Traditionen des alten Ägyptens die Abschneidung der Vorhaut den Beginn eines neuen Lebens für den Jungen. So wie das Neugeborene sich mit der Durchtrennung der Nabelschnur von der Mutter verabschiedet, verlässt auch das Kind mit der zurückgelassenen Vorhaut die Frauenwelt und tritt in das System der Männer ein.
Wir wollen auch einmal auf die Pubertätszeremonien in Anatolien zurückblicken. In den Sagen von Dede Korkut müssen die Jungen, um einen Namen zu erhalten, eine Heldentat, eine Tapferkeit an den Tag legen und so ihren Namen verdienen. Boghatsch Khan, der den Stier, der in Mesopotamien als Männlichkeitssymbol galt, überwältigt, ist Held einer nach wie vor im Literaturunterricht behandelten Sage. Männlichkeit gibt es nicht umsonst; sie muss verdient werden…
Wie bei anderen Bräuchen der anatolischen Religionen, die bis heute tradiert sind, ist auch die Beschneidung in die islamische Religion eingegangen und hat sich tief in unser Leben eingebürgert. Die Beschneidung verband sich mit dem ebenso patriarchalen islamischen Glauben und fand sich in der Moral wieder, die durch gesellschaftliche Sanktionierung überdauert.
Zwar sagen der männliche Prophet und der Koran, dass das Paradies unter den Füßen der Mütter liege. Aber in der Umsetzung des Glaubens, der von Männern interpretiert wird, ist den Männern der Vorzug gegeben worden. Man versprach ihnen die Herrschaft über eine Familie mit bis zu vier Gattinnen. Damit wurde die Autorität des Mannes gefestigt; das letzte Wort sprach er in der Familie; sein Wort zu ignorieren, galt als Sünde.
Damit diese Männlichkeit überlebt, wurden auch die Rituale zugunsten des Mannes interpretiert. Mann und Frau sind zwar gleichgestellt, aber der Ort und Zeitpunkt der Sexualakte wird vom Mann bestimmt. Bei der Ehevermittlung ist die besuchte und zur Schau gestellte Seite immer die weibliche, während die beurteilende Besucherseite immer die männliche ist.
Mit dem Lied «Es ist vollbracht, toi, toi, toi!» werden bei dem Eintritt in die Männlichkeit Fakten geschaffen. Die erste Lektion: Männer weinen nicht!
«Wenn du Kaugummi kaust, verwächst dein Bart!»
Als ich Muttersöhnchen genannt wurde, hätte ich wissen sollen, dass ich ein paar Punkte an Männlichkeit verlor, weil ich bei meiner Beschneidung weinte. Es war aber zu spät.
Auch in «Jet-Phantom», der Clique meines großen Bruders, hatte ich keinen Platz, weil ich mit den Mädchen aus der Gegend Gummihoppeln spielte.
Meine Großmutter jagte mir Angst mit dem Märchen ein, dass mein Bart verwachen würde, wenn ich weiterhin Kaugummi kaute. Ein Mann dürfte nicht Kaugummi kauen. Aber weil ich neugierig darauf war, wie der Bart verwächst, gab ich das Kaugummi-Kauen lange Zeit nicht auf.
Ich erinnere mich daran, dass meine Grundschullehrerin Mualla Atlı meinen Vater blaue Beschriftungsaufkleber kaufen schickte, weil ich die Hefte mit der blauen Schutzhülle mit roten Beschriftungsaufklebern versah. – Zum Glück machte sich mein Vater nichts daraus.
Murmelspielen tat meinen Fingern weh, und ich schämte mich, Kronkorken aufzusammeln. Vor Bällen hatte ich Angst; es tat unheimlich weh, wenn sie mich trafen. Mein Bruder hatte sowieso längst aufgehört, aus mir einen Torwart machen zu wollen. Ich rannte nur gelegentlich dem fehlgeschossenen Ball hinterher und holte ihn zurück.
Zum Glück war die Tradition, den Nachbarn und Gästen den Pullermann zu demonstrieren, in unserem Haus nicht üblich. Mein Vater ließ es nicht zu, dass meine Männlichkeit im Kindesalter zum Vergnügungsstoff wurde. Mit meinen Freunden spielte ich allerdings «Wer pinkelt am weitesten» – ob wir während des Spiels auf unsere Geschlechtsteile schauten, kann ich mich nicht erinnern.
Es war eine Zeit, in der die Rollenverteilung immer deutlicher wurde: Die Farben von Jungen und Mädchen wurden bestimmt; die Spiele wurden nach Geschlechtern geteilt; das Verhalten den Anderen gegenüber wurde nun vom Geschlecht geprägt.
In der Pubertät wurden wir mit der Rolle des dominanten und scheinbar souveränen Mannes bekannt gemacht. Er wurde als eine Art «Herrscher» wahrgenommen, der die femininen Männer, Homosexuellen oder alle Frauen beherrschte und stärker als die anderen Identitäten definiert wurde.
In einer späteren Phase sah ich, dass sich diese Zustände in den Machtverhältnissen der Gesellschaft herauskristallisierten. Während Maskulinität mit Stärke und Überlegenheit verbunden war, wurde Femininität als Schwäche und Unterlegenheit angesehen.
Die dominante Männlichkeit ist gegenwärtig in Fußballstadien, Teestuben, Straßenecken und Moscheen: An diesen Stellen konstruieren und erleben sie ihre eigene Realität, indem sie sich über ihre eigenen Körper, Frauen, andere Männer, ihr Wissen über das Leben, Maschinen, Technologie und Fußball unterhalten.
Der maskuline Mann misst sich an anderen Männern und beurteilt sich im Vergleich mit den anderen. Alleine ist er nur Mann, erst zusammen mit den anderen wird er zum maskulinen Mann. «Stärke erwächst aus Einheit.»
Zum ersten Mal in den Genuss des Männlichkeitsstolzes kam man beim ersten Puffbesuch, der für gewöhnlich mit dem Onkel gemacht wurde. Dieser bezahlte Orgasmus wurde unter den Freunden gefeiert und monatelang erzählt. Das Mädchen, das ihre Jungfräulichkeit «verliert», wurde hingegen von ihrem Vater, den Brüdern und anderen Familienangehörigen verstoßen. Als «unkeusch» gebrandmarkt, wurde sie auch unter den Frauen als «schlechte Frau» benannt. Während der Mann (meistens) erst nach seinem Puffbesuch «national» wurde – wie die Fußballspieler, die zum ersten Mal in der Nationalmannschaft spielen, wurde das unverlobte Mädchen, das «entehrt» ist, zur «Hure».
Während die Prostituierte dem Mann den Sex beibringt, wird sie vom selben Mann als «Hure» stigmatisiert und erniedrigt. Sie soll den jungfräulichen Mädchen als Exempel dienen – eine Männlichkeit, die auf ihren eigenen Widersprüchen fußt…
Was von den Kindern erwartet wird, steht eigentlich schon von Anfang an fest: Das Mädchen darf sich keinen Fußbreit von der Mutter entfernen: Sie ist in der Küche und für den Haushalt erforderlich. In machen Fällen soll sie so lange zu Hause die Weiblichkeit studieren und im Familienkreis die Zeit wie eine osmanische Haremskonkubine totschlagen, bis ihr «Glück» an die Tür klopft oder ein «standhafter» Mann gefunden ist. Früher hielt man nicht einmal die Schule für nötig; auch ohne zu lesen und zu schreiben, konnte sie ein gutes Weib für ihren Mann werden, es war durchaus genug, wenn sie Gemüse einlegen, Weinblätter füllen und Pastete backen konnte.
Wenn das Kind ein Junge war, nahm man von ihm nach der Pubertät Abschied, in der Hoffnung, dass er eines Tages ein «großer Mann» würde. Wo er war, und wie er sich durchschlug, wurde traditionell nicht so sehr nachgehakt. Das, was er tat, wusste der Sohn meist von alleine; Vater und Mutter waren von ihm überzeugt und gaben ihm auch großzügig Rückhalt. Er war seines Vaters Sohn und alles, was seine Mutter besaß. Seine Mutter und Schwester waren seine Ehre, und als ihr Hirte hütete er sie nach seiner Auffassung von Freiheit.
In der familiären Erziehung waren Rollen verteilt: Der Vater sollte Angst einjagen, während die Mutter immer verzeihen sollte. Die Mütter wiederum vertrauten den Söhnen mehr als den Töchtern. Die Söhne waren eine Art Sozialversicherung; sie sollten groß werden, Geld verdienen und sich um die Mutter kümmern. Bei den Töchtern war es dagegen anders: Eines Tages kam ihr Kandidat, und wenn sie ihm gefiel, holte er sie ab.
Die Abweichungen trüben selten das Gesamtbild; während man in der Regel die Hoffnung auf die Söhne setzt, werden die Töchter als Braut fortgeschickt. Dass die Tochter sich eigentlich am Ende um den Vater und die Mutter kümmern wird, schert niemanden.
Freilich gibt es die eine oder andere Ausnahme, die sich von der Norm abweicht. Aber auch ein «Mädchen-Ali» oder eine «Kerl-Fatma» finden ihren Platz in diesem System. So gilt beispielsweise der Charakter «Chauffeur Melahat» als anerkannte Ausnahme in der Männerwelt. Auch die männlichen Künstler, die im Minirock, mit hohen Absätzen und Make-up auf der Bühne stehen und mit femininer Gestik Sympathie einheimsen, gehören zu dieser Kategorie. Solche Übergänge zwischen den Geschlechtern werden mit einem Respekt betrachtet, der sich zwischen Toleranz und Ignoranz bewegt.
Solange nicht darüber gesprochen wird und das ganze öffentlich nicht thematisiert wird, sind alle frei, ihr Privatleben so zu führen, wie sie es wollen. Was du im stillen Kämmerlein machst, scheint niemanden zu kümmern – und die Herrschaft draußen gehört ja ohnehin bedingungslos den Männern.
«Der größte Soldat ist unser kleiner Mehmet»
«Ich habe dich für dieses Vaterland geboren», sagte meine Mutter zu mir, als ich sagte, dass ich nicht zum Militär gehen wollte. Dass ihr Sohn seine Bürgerpflicht nicht erfüllen wollte, war für sie eine Katastrophe. Hätte ich ihr gesagt, dass ich mich in die Kaserne begebe, um Märtyrer zu werden, ich habe keinerlei Zweifel daran, sie hätte mich mit Gott-ist-groß-Parolen fortgeschickt.
Sicher, meine Mutter war jemand, die mit dem Glauben zu weit ging: An der Grenze Wache zu halten, um unser Land gegen Feinde zu verteidigen, und in Medina die Gruft des Propheten Mohammad zu bewachen wären für sie wohl ein und dasselbe.
Ohne den Militärdienst abgeleistet zu haben, gilt der türkische Mann nicht als vorbereitet auf das soziale Leben. Wer seinen Militärdienst nicht abgeleistet hat, bekommt keine Braut und keine Arbeit; er ist ein sozial Behinderter oder gilt als ein Softie, der nicht zu den vollwertigen Männern zählt. Ohne in produktivsten Jahren des Lebens zum Militär gegangen und monatelang morgens durch die Gegend gerannt zu sein und dabei die Parole «Jeder Türke wird als Soldat geboren und stirbt als Soldat» skandiert zu haben, kann man kein Mann werden.
Es steht in unserer Verfassung: Jeder Türke ist verpflichtet, den Militärdienst abzuleisten. In der Gesellschaft wird Militärdienst nicht nur als «Vaterlandsverteidigung» wahrgenommen. Die Kaserne fungiert wie eine Schule, in der man mit strengster Disziplin für das bevorstehende «gnadenlose» Leben abgerichtet wird. So kennt beispielsweise jemand, der noch nicht in der Armee war, keinen Respekt vor der Stärke, weil er keinen Hauptmann kennen gelernt hat und von ihm nicht verprügelt und gescholten worden ist. Er soll über die Kriegsspiele seiner Kindheit hinausgehen, den Umgang mit Waffen lernen und notfalls sein Gewehr strafen, wenn es nicht feuert. Er soll seinen Eintopf mit seinen Kameraden teilen. Mit dem, was er von den anderen Männern hört und an ihnen sieht, soll er seine Männlichkeit festigen. Er soll in der Armee auch Heimweh haben und den Wert seiner Eltern schätzen lernen. Ist er Analphabet, wird er alphabetisiert und mit einem Dankbarkeitsgefühl aufgeladen. Auf Befehl einzuschlafen und auf Befehl aufzustehen, kennt er bis zur Armee nicht; auch die absolute Loyalität zur Hierarchie bleibt ihm bis dahin fremd. Er ist also noch nicht zum Mann ernannt.
Ohne zu stolpern gerade zu stehen, zu jagen, Stärke zu zeigen, keinen Schmerz zu empfinden, mit seinen Geschlechtsgenossen erbittert zu konkurrieren, männliche technische Probleme zu bewältigen, zur Not skrupellos und zerstörerisch zu sein und sein Wort zu halten; das alles lernt er in der Armee als erstes. Nachdem er diese Tugenden erworben hat, ist er auch im Frieden stets auf der Hut; er will um jeden Preis gewinnen, und jede Hürde ist ihm ein Feind.
Der Kasernenhof ist ein Männerhof; er ist vom Kopf bis Fuß maskulin. Gleichgültig, ob effeminiert oder nicht, homosexuelle Männer sind dort unerwünscht. Das hat nur mit Aktivität zu tun und die wird nach der sexuellen Neigung bestimmt. Die Kaserne lässt nur aktive Männer zu; die sexuell passiven Männer werden als untauglich («faul», «verdorben») eingestuft. Homosexualität widerspricht vor allem den militärischen Normen und Disziplinregeln, sie ist unmoralisch.
Was soll der Homosexuelle tun?
Zuallererst soll er zum Rekrutierungsbüro gehen und sagen, dass er homosexuell ist, und dann seine Einweisung ins Militärkrankenhaus beantragen. Er wird in die Abteilung für Psychiatrie geschickt. Man unterhält sich dort mit ihm, um seine Homosexualität festzustellen. Er muss persönliche Fragen beantworten: Seit wann er mit den Männern schläft; ob er Geld dafür bekommt; wenn nicht, wie er dann seinen Lebensunterhalt bestreitet; ob er alleine oder mit seinen Eltern wohnt. Dann lässt der Militärtherapeut seinen Patienten das Haus zeichnen, in dem er gerne leben würde. In dieser Zeichnung wird nach phallischen Elementen gesucht. Ein von einem Zaun und den Obstbäumen umgebenes, zweistöckiges Haus, dessen Schornstein raucht, in einem Blumengarten zu zeichnen, gilt zum Beispiel als Zeichen von Homosexualität. Die «psychosexuelle Störung» wird hier diagnostiziert; ein Bericht wird angefertigt. Aber der militärische Ausschuss braucht einen konkreten Beweis. Der Patient wird aufgefordert, Analsex zu dokumentieren. Dafür muss er Fotos vorlegen, die ihn während des Analverkehrs abbilden. Das Gesicht, gar der Gesichtsausdruck ist dabei besonders relevant. Diverse Stellungen sind angesichts der Glaubwürdigkeit erwünscht. Dadurch sollen die Pseudohomosexuellen, die sich vor dem Militärdienst drücken wollen, ausgeschlossen werden – so erklärt zumindest das Militär diese absurde Forderung.
Der Militärausschuss tagt zweimal im Monat, freitagnachmittags, und entscheidet über die Ausmusterungsanträge. Darunter finden sich Plattfüßige, die Übergewichtigen (mindestens 130 Kilo) und Untergewichtigen, geistig Behinderte, die, die aufgrund gesundheitlicher Beschwerden zur Erfüllung der Pflicht nicht in der Lage sind – und die Homosexuellen… Vor dem Tagungsraum wird darauf gewartet, dass der Name aufgerufen wird. Der Reihe nach wird dann in den Raum getreten. Zuerst wird der Bericht gelesen, dann sieht man sich die Fotos und den Antragsteller an. Ein, zwei Fotos sind nicht genug; jede Aufnahme wird akribisch überprüft. Es wird festgestellt, ob die Person mit dem Gegenüber identisch ist. Der Militärausschuss, dessen Heterosexualität angenommen wird, erfüllt seine Aufgabe ohne Scham und mit großer Gewissenhaftigkeit.
Nötigenfalls werden Fragen gestellt, etwa: «Ihr Homosexuellen, an welchem Ohr tragt ihr den Ohrring? Am linken oder am rechten?» Wird die Homosexualität von dem Ausschuss bestätigt, bekommt man in das Wehrbuch den Vermerk «Für den Militärdienst untauglich» geschrieben. Nachdem die Fotos in einen beschrifteten Ordner gelegt sind, wird man nach Hause geschickt. Den schriftlichen Rapport bekommt man in ca. zwei Monaten in einem Behördenumschlag nach Hause zugeschickt. Wohnt man mit den Eltern und hält die sexuelle Identität versteckt, wird man durch die behördliche Post gleich geoutet – «Diagnose: Psychosexuelle Störung, Homosexualität.»
Unser kleiner Mehmet, wie Wehrpflichtige auch genannt werden, ist ein anständiger Bursche. Mit seinen Geschlechtsgenossen macht er lieber Krieg als Liebe.
«Die Stütze des Hauses»
Nach der Rückkehr vom Militär, zur Reife gelangt, geformt und die bitteren Wahrheiten des Lebens erfahren, kann er seinen Eltern nun Dankbarkeit erweisen, ihnen verdankt er schließlich alles, was er hat. Das tut er, indem er als gereifter Mann in den Ehestand tritt und um sich seine eigene Familie schart. Als Mann ist er jetzt in voller Blüte. Seine erste Aufgabe lautet: Mehren! Mit seiner Auffassung, die Sexualität gleich Fortpflanzung ist, will er sich nun vervielfältigen.
Mit allem, was er tut, hat er Recht. Vor allem ist er dazu verpflichtet, seinem Weib («in dessen Bauch das Kind und auf dessen Rücken der Knüppel nicht fehlen darf», wie ein Sprichwort sagt) alles beizubringen, was er von ihr im Bett erwartet. Dass seine Frau Jungfrau ist, ist in der Hinsicht bedeutsam, dass seine Erfahrenheit dadurch zum Vorschein kommt. Seine Majestät ist der erste Konsument; er ist der erste Besitzer dieser voll automatisch angefertigten Maschine.
«Prügel stammt aus dem Paradies», und «Zwischen das Ehepaar stellt man sich nicht»; «Ehemänner, Brüder und Väter prügeln und lieben zugleich» … so sind wir groß geworden. «Wohin der Lehrmeister schlägt, blühen Rosen» hieß es zuerst, «Wo der Mann hinschlägt, blühen Rosen» heißt es später.
Der Mann hat immer viel zu tun und ist oft müde. Häufig bleibt er mit seinen Freunden hier und dort hängen und lässt seine Frau warten. Und trotzdem ist er der, der das Brot verdient und für die Familie sorgt. Seine Frau lässt er nicht arbeiten – es gehört sich ja nicht –, aber dafür macht er sie von sich abhängig. Er lässt sie vielleicht nicht seine Füße waschen, aber wenn ihm nach Sex ist, lässt er sich nicht zurückweisen; sein Wunsch hat Befehl zu sein.
Seine Aufgabe im Haus besteht darin, sich nach der Arbeit an den von seiner Frau und seinen Töchtern vorbereiteten Tisch zu setzen, den Alltag der Familienangehörigen zu kontrollieren, fernzusehen, und womöglich mit Nichtstun seine Herrschaft zu genießen. In seinem eigenen Haus lebt er wie ein Gast.
«Das Nest wird vom weiblichen Vogel gebaut» sagt man; für die Ordnung im Haus ist die Frau zuständig. An Stelle des Harems im osmanischen Palast traten die eigenen vier Wände und das intime Leben im Haus. Während zu Hause der Mann von der Frau gefüttert wird, wird sie draußen von ihm geführt; während die Frau so auf diese Art ins Paradies eingehen kann, darf der Mann überall hin – und kommt trotzdem auch in den Himmel rein. Ein Riesenklotz mitten im Haus ist dieser Sohn eines Mannes.
Dass die Männerherrschaft mit einem etablierten und institutionalisierten System die Frauen unterdrückt, ist richtig. Wenn auch der Mann als Hausherr gilt, was und wie gemacht wird, welche Entscheidungen getroffen werden, wird eigentlich von der Frau bestimmt. Aber nach außen wird der Mann als Herrscher des Hauses dargestellt. Dass die Frau mit dem Einsatz ihrer Sexualität, Emotionalität und Intelligenz den Mann «manipuliert» und dadurch sich in der von Männern dominierten Welt durchschlägt, sollte eigentlich als eine Form des Widerstands verstanden werden.
Erzwungene Männlichkeit, verantwortungsvolle Männlichkeit, problematische Männlichkeit
Junge zu werden, steht eigentlich einem nicht frei; man kann also kein Junge «werden», man wird als Junge geboren.
Das Patriarchat existiert, der Frauenemanzipation zum Trotz, immer weiter fort. Der Mann ist auf andere Männer angewiesen, um als Mann existieren zu können; er ist immer im Verhältnis mit den anderen ein Mann. Er rivalisiert leidenschaftlich und ehrgeizig mit seinen Geschlechtsgenossen.
In Folge der ökonomischen Sachzwänge werden den letzten Jahren die Übergänge oder Trennungslinien der ehemals streng nach den Geschlechtern festgelegten Arbeitsteilung immer deutlicher. Jagen und für das Haus sorgen – das interessiert nun, wenn auch für die Männer schwer hinnehmbar, auch die Frauen. Ebenso wird nun von den Männern in der Küche mehr erwartet, als nur den Salat zu machen. Zusätzlich wird die Männlichkeit zusammen mit der erstarkenden Frauenbewegung, dem Feminismus und der Verwestlichung immer heftiger hinterfragt.
Trotz dieser Tendenz und Wandlung sucht die Männlichkeit mit neuen Selbstdefinitionen ihre Macht beizubehalten und sich selbst zu reproduzieren. Nun ist anstelle des strengen, gewaltsamen und repressiven Mannes der so genannte «Steinofenmann» getreten, der seine Frau, die ebenso erwerbstätig ist, nicht schlägt und die wichtigen Entscheidungen gemeinsam mit ihr trifft, aber in Gegenwart der dritten Person so tut, als hielte er die Fäden in der Hand. Effeminiert wirkende und gepflegte Heterosexuelle, die auf Ästhetik und Charme Wert legen, distanzieren ihre Männlichkeit vom Homosexualitätsverdacht, indem sie sich «metrosexuell» nennen.
Ferner gibt es die Verkitschung der Homosexualität zu einem Modephänomen, das Verstehen verhindert. So gewinnen in der Glitzerwelt die «Stars», die ihre homosexuelle Identität großzügig demonstrieren, aber sorgfältig meiden, darüber zu reden, die Sympathie der Bevölkerung. Die Zahl der «metrosexuellen» Männer, die sich schminken, prunkvoll schmücken und die bisher mit Homosexualität identifizierten Verhaltensweise zeigen, wird von Tag zu Tag größer. Diese Mode schuf einen Männertypus, der den Homosexuellen spielt, um leichter an die Frauen heranzukommen und ihr Vertrauen zu gewinnen, um dann die vermeintlich erste männliche Erfahrung zu für sie zu werden.
Auf der anderen Seite der Medaille treffen wir auch die Männer, die so tun, als würden die Homosexuellen ihren Stolz verletzen. Ich habe sie lange vergeblich beobachtet, ohne ihre Beleidigungen zu verstehen.
In einer Gesellschaft, in der die Jungfräulichkeit für heilig gehalten wird, hat das Flirten seine Grenzen. Wenn es um den Sex vor der Ehe geht, trennen sich die Wege der Männer und Frauen. Die innere Pflicht der Mädchen, ihre Jungfräulichkeit zu behalten, und die Ablehnung des Analverkehrs im Koran versetzen die Männer, was sexuelle Befriedung angeht, in eine schwierige Lage. Auch Masturbation ist qua Religion nicht besonders erwünscht.
Es gibt allerdings eine Methode, über die zwar ungern gesprochen und gar nicht offen diskutiert wird, die aber bekannt ist: Der maskuline Mann lernt den eigenen Körper zuerst mit einem Geschlechtsgenossen kennen und macht seine ersten Erfahrung mit eben diesem. Das Bordell ist nicht immer die ökonomischste Lösung, und die Einzelheiten darüber, wie es sonst geht, erfährt er von seinen Freunden. Wenn er aufgeladen nach einem Loch sucht, um sich zu entladen, schläft er mit den Schwulen. Obendrein wird ihm unter den Freunden übersteigerte Maskulinität zugeschrieben, weil er es sogar Geschlechtsgenossen «besorgt». So wie sie die Prostituierte, bei denen sie die Sexualität kennen lernen, erniedrigen, sprechen sie mit derselben Heuchelei den homosexuellen Männern, die sie für ihre Befriedung benutzen, die Maskulinität ab: Der, der nicht so ist wie er, ist homosexuell und passiv. Der «Mann» ist in dem Maße Mann, in dem er aktiv ist. Zwar schuldet er seine Männlichkeit den Prostituierten und «Schwulen», denen er «es besorgt» und mit deren Hilfe er in der Praxis in den Genuss seiner Männlichkeit kommt. Aber warum auch immer, beeinträchtigen diese nicht hinterfragten Abenteuer, die eher nach der Formel «Rein, raus, Sch(l)uss» als nach sexueller Lust ablaufen, seine Maskulinität nicht.
Und noch ein Wort zum Schluss: Lena, die Tochter meines Freundes, von dem ich eingangs redete, kam inzwischen auf die Welt, und sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter sind glücklich darüber.
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